Zeitlose Avantgarde
Phillip Boa and the Voodooclub im Comma Gera
26.11.2011 [db] Es gibt Künstler, die muss man einmal live erlebt haben. Phillip Boa gehört für mich dazu. Dieser Mann ist so vielen bekannt. Seine Musik hat so viele begleitet und in der Musiklandschaft tiefe Spuren hinterlassen, dass man eigentlich nicht umhin kommt, einmal an einem Samstagabend im November in einem verrauchten Club in Gera zu stehen, kaum Platz zu haben und ein klein wenig nervös Richtung Bühne zu blicken. Man muss sich nicht mit dem Wesen Boas beschäftigt haben. Man erfährt so viel, wenn man diesem Künstler, der eigentlich nie einer werden wollte und seiner Band zusieht. Es ist etwas Besonderes. Ohne Zweifel. Und es ist schwierig in Worte zu fassen.
Das Comma in Gera ist verwinkelt. Und brechend voll. So verwundert es an diesem Abend kaum, dass hinter jeder Ecke, in jedem Winkel des oberen Geschossen Besucher stehen und gehen, sich unterhalten, lachen, ins Raucherzimmer drängen oder sich den besten Platz vor der Bühne suchen. Vor dem Merchandisestand stapeln sich die Fans und an den Theken ist kein Durchkommen mehr, als etwas verfrüht KiEw auf die Bühne gehen. Ich kann diese EBM’ler für mich selbst schlecht einordnen. Wusste auch im ersten Moment nicht, weshalb ausgerechnet KiEw im Vorprogramm eines Phillip Boa spielen. Doch manches wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. KiEw sind nicht einfach EBM, stumpfes Gestampfe und Shouts. KiEw sind Theater, dadaistisch, nicht jedermanns Geschmack, aber aus diesem Grund doch glaubhaft als Support Act von Phillip Boa zu verorten. Experimentelles Musiktheater, unterlegt mit Industrialklängen – so könnte man sie nach dem ersten Hören am Besten beschreiben. Im Publikum waren zwar einige gut erkennbare EBM-Fans unterwegs, der Großteil der Leute kam an diesem Abend aber wegen Phillip Boa und so blieb der große Applaus für die Band dann auch aus.
Welcome to the Voodooclub! – sprach ein fahriger Phillip Boa nach einer kurzen Umbaupause ins Mikro. Zu diesem Zeitpunkt gab es für die ersten Reihen schon kein Halten mehr. Wenn man sich Interviews mit diesem Mann durchliest oder eines der wenigen Videos sieht, auf denen er Fragen beantwortet, dann hat man einen wortgewandten, aber scheuen und – ja – nervösen Mann vor sich. Einen Mann, der nie Musiker, sondern ganz normaler Mensch sein wollte. Der gegen Demokratie in der Kunst ist und verschroben wirken mag. Doch hinter all dem steckt der Phillip Boa, der die Musikwelt Deutschlands vor Jahren umgekrempelt hat. Der Individualität und Mut zum experimentellen Gesamtkunstwerk zurückgebracht hat. Der als einer der wenigen gilt, die auch international anerkannt sind. Dieser Phillip Boa stand nun auf der kleinen Bühne des Comma und sang, blickte auf seinen Notenständer, bewegte die Hände schnell im Takt der Musik. Kehrte sich vom Publikum ab, hockte sich hin und wirkte abwesend in sich gekehrt. Und doch schenkte er den Anwesenden großartigen Pop, Punk, New Wave, Boa – einen Querschnitt aus seinen Werken „Helios“ und „Boaphenia“, alten und neueren Stücken. Der Voodooclub kochte. Die Akteure, abgetrennt in ihrer eigenen Welt, dort auf der Bühne. So unendlich weit weg. Und doch so nah und einnehmend. Der Musik Boas kann man nicht entrinnen und will es auch nicht. Die Eigenheiten gehören dazu. Die machen das Gesamtbild aus. Und dann weiß man auch, warum KiEw als Vorband spielten. Es ist eine verschrobene, dunkle Mischung. Und die Mischung macht’s.